Zuverlässig und gut funktioniert es, dieses Internet. Solange niemand anfängt zu zensieren (was systembedingt gar nicht so einfach ist), zu drosseln (wobei es bei diesem Thema eher um Renditen als um Technik geht) oder aber der Bagger den Draht unmittelbar vor der Haustür anknabbert. Datenpakete finden ihren Weg von und zum Livestream an politischen Brennpunkten auf Plätzen in der Türkei oder Ägypten. Allerdings – aus Sicht der Nutzer freilich unerwünscht – genau so in die Archive von NSA und und Bundesnachrichtendienst hierzulande: Der sucht gerade 100 neue Mitarbeiter für seine Abteilung „technische Aufklärung“. Das Netz als solches funktioniert auch in diesem Fall, es kennt nur Datenpakete. Auch am 11.9.2001, als die Netzlast emporschnellte und gleichzeitig zentrale Router durch die Anschläge in den USA betroffen waren. Das Geheimnis hinter den Kulissen: Das Internetprotokoll aus dem Jahr 1981 und seine Fähigkeit, Datenpakete auch über verschlungenste Pfade ans Ziel kommen zu lassen: Jedes Einzelpaket kann jedem Router jederzeit sagen, wo es hin will. Alle Geräte sprechen die gleiche Sprache, seit mittlerweile über dreißig Jahren. Das historische an der „Erfindung Internet“ ist die Tatsache, dass es tatsächlich gelungen ist, eine weltweite Infrastruktur nach einem offenen Standard aufzubauen, bei der alle (Geräte) miteinander sprechen können – ohne zentrale Steuerungsinstanz, ohne Lizenzgebühren für das Netz als solches und ohne die Notwendigkeit, irgendwelche Techniken bei irgendwelchen Firmen einzukaufen. Auch „soziale Netze“ wie Facebook oder Twitter und selbst Google sind aus technischer Sicht keine Teilnetze, sondern einfach nur Rand(?)erscheinungen im Netzverkehr. Als ich meinen ersten Netzzugang hatte, versuchte uns AOL mit Werbe-Maskottchen Boris Becker zu erzählen, dass AOL „das Netz“ sei. Second Life gab es auch einmal. Das Netz selbst bleibt und wächst.
Wirklich eng wird es nur an einer Stelle: Die Adressen gehen aus. Nicht die „klingenden Namen“, sondern die technischen Adressen. So etwas wie 193.29.2.68 (wer Lust hat möge klicken), das ist vereinfacht gesagt die Anschlussnummer dieses Ihnen bekannten Servers im Internet. Die muss natürlich eindeutig sein, wie eine Telefonnummer auch. Seit Jahren konnte man regelrecht mitzählen, wie der Nummernvorrat zu Ende ging. Wäre der Adressen-Hunger auf der ganzen Erde schon immer so hoch gewesen wie in USA und Westeuropa, wäre schon längst Schluss. Und nun?
Umbau im laufenden Betrieb
IPv6 heißt die Lösung – eine ambitionierte Lösung. Denn wenn das Internetprotokoll, kurz IP, das Erfolgsgeheimnis für das robuste Internet ist, ist die Umstellung auf eine neue Protokollversion mehr als eine Kleinigkeit. 15 Jahre währt nun der Vorlauf für diese Umstellung, entsprechend gründlich ist die Vorarbeit. Was wird sich ändern?
- Die IP-Nummern werden andere, vor allen Dingen längere sein
- alle „privaten Rechner“ (zu Hause, Bürolaptops, Smartphones) können eindeutige Adressen haben
- Multicast erlaubt Punkt-zu-Mehrpunkt-Verbindungen, gerade für Rundfunkanstalten eine interessante Sache
- Quality of Service ermöglicht es, bestimmte Verbindungen zu priorisieren
- Security Considerations erlauben sichere Verbindungen
Was heißt das in der Praxis? Zunächst einmal nichts. Denn die Datenpakete von altem (IPv4) und neuem (IPv6) Internetprotokoll können gekapselt werden, derzeit beginnt die sanfte Migration. Wer will, kann sein lokales Netz schon heute umstellen auf IPv6, aber weiterhin konventionell die Verbindung ins Internet aufbauen. Oder auch umgekehrt, lokal bleibt alles beim alten, aber vom Router zum Zugangsprovider aktiviert man IPv6. Letzteres setzt allerdings voraus, dass sich der Provider bereits durchgerungen hat, IPv6 anzubieten. Technisch ist das kein Problem, selbst betagte Server-Betriebssysteme „können“ IPv6. Allerdings kostet jede Umstellung Geld: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen es „tun“ und vorher noch müssen sie an Schulungen teilnehmen. Der Gewinn jedoch stellt sich erst irgendwann ein. Das verzögert die Umstellung. Nichts desto trotz: IPv6 ist die Zukunft, ob zu Hause, in Firmen-Netzen oder im großen Internet.
Geschwätzig durch die Hintertür?
Was heißt das für den oder die Einzelne? Wie für die Kollegen in den Internetfirmen auch: Zuerst einmal lernen. Also greifen wir einen Aspekt an dieser Stelle heraus: Die Privacy Extensions. In Zeiten von NSA/PRISM, Facebook und Vorratsdatenspeicherung sagen die Einen: Datenschutz ist eh hoffnungslos, mit IPv6 wird alles schlimmer und außerdem habe ich nichts zu verbergen. Dazu ist meine persönliche Meinung: Gewiss kann ich den Kopf in den Sand stecken. Und in der Tat bin auch ich kein wirklicher „Geheimnisträger“. Allerdings möchte ich erstens gern selbst entscheiden, wer wieviel über mich weiß, so viel Dickkopf muss schon sein. Und zweitens möchte ich wissen, wer auf welchem Wege was über mich erfahren kann – und wie ich den oben genannten Neugierigen das Leben gegebenenfalls möglichst schwer machen kann. Also schon wieder: Lernen.
Wichtig für alle Daten-Spione ist, die User wiederzuerkennen, wo immer sie sich im Netz bewegen. Der Klassiker: Cookies. Kleine digitale Notizen, die Webserver auf den Surfcomputer legen. Facebook macht das etwas plump mit den „Like“-Buttons, die auch ohne dass man sie anklickt der Zuckerberg-Firma verraten, dass man gerade irgendeine Website mit solchem „Like“-Button besucht hat. Google kann das auch, sie führen darüberhinaus – wie elegant – eine Liste aus Millionen Datensätzen, in denen charakteristische Eigenschaften von Rechner, Betriebssystem und Browsereinstellungen festgehalten sind. So kann Google auch mein tragbares Gerät wiedererkennen, selbst wenn ich mittlerweile drei Straßen weiter oder in einem anderen Kontinent ins Netz gehe. Auf diese Weise verdient Google wirklich Geld, zweistellige Milliardenbeträge alljährlich – durch Verkauf nutzerspezifischer Werbung. Und was hat das mit IPv6 zu tun? IPv6 hat das Zeug, für jedes Gerät dieser Welt „lebenslänglich“ eine eindeutige Nummer zu vergeben. Technisch ist das superpraktisch, von SIP-Telefonie bis Skype-Spielerei macht das Vieles so viel einfacher. Nur würde in einem solchen IPv6-Internet Datenschutz komplett unmöglich. Jeder Smartphone-User wäre jederzeit unwiderruflich zu orten, egal ob per Mobilfunk in der Metropole, als Korrespondent per WLAN im Wendland oder per Google-Loon auf dem Gebirgspfad Lake Waikaremoana. Deshalb wurde IPv6 um die „privacy extensions“ erweitert. Teile der gerätespezifischen Adresse werden immer wieder gewechselt, meine Identität dadurch verschleiert. Falls ich die entsprechende Technik aktiviert habe. Bei den gängigen Betriebssystemen ist das der Fall. Mittlerweile auch bei Android und iOS.
Datenschutz ein Opfer von IPv6?
Nein, wie wir gesehen haben, kann ich schon mit dem aktuellen IPv4 von Werbeindustrie und Geheimdiensten verfolgt („getrackt“) werden. Aber es macht einen Unterschied, ob das technische Fundament des Internets zu einer globalen Liste von Smartphone-Nutzern und Serveradressen wird – oder ob ich mich persönlich entscheiden kann, wieviel ich preisgebe. Also: ob ich unkritischer Facebook-Nutzer werde, oder doch zumindest mal die Datenschutzeinstellungen durchklicke – oder auch meine sozialen Netzkontakte anderweitig pflege. Das Netz der Zukunft jedenfalls „kann“ Datenschutz. Für die, die es wollen.